Schuld

Da sass ich doch ganz gemütlich und mit grünem Gewissen im Zug und liess meiner inneren Ungemütlichkeit freien Lauf. Natürlich nur innerlich. Ich nervte mich über die Hitze unter der Maske, der notwendig gewordenen, anlaufenden Brille, die Situation in der Welt, meine Unfähigkeit, angepasst, gleichgültig und lämmleinhaft mein Leben zu verbringen, fragte und frage mich immer wieder, ob ich wohl die bin, welche spinnt, wenn ich beim Anblick der gelassenen freiwilligen, sehrwahrscheinlich noch doppelt geimpften Maskenträger auf den schweizer Bahngleisen gefühlte zweitausend graue Haare pro Sekunde bekomme. Dann nervte ich mich, dass ich mich nerve und versuchte mich zu beruhigen, indem ich in „la vieillesse“ von Simone de Beauvoir weiterzulesen begann. Aber erstens konnte ich mich nicht konzentrieren und zweitens nervt dieses Thema genauso. So zückte ich mein Handy und liess mit meiner auch genervten Freundin per Threema meinen Worten schriftlich freien Lauf, und wir schimpften uns gemeinsam den Kopf frei. Was solche Apps heutzutage alles durchstehen müssen. Auweia.

Als ich dann wieder äusserlich und innerlich halb gemütlich im nächsten Anschluss sass, die Aussicht auf die schöne Schweizer Landschaft genoss, sah ich den Kontrolleur und bemerkte, dass ich vor lauter Gemütlichkeit (nein, es war nicht die Nerverei) total vergass, dass ein grünes Gewissen zu haben natürlich auch was kostet. Was soviel hiess, wie dass ich nicht eine Sekunde daran dachte, ein Ticket zu lösen. So wartete ich auf den herbeikommenden Kontrolleur und verkündete ihm die Wahrheit, nämlich, ich sässe seit mehr als einer Stunde in der SBB und hätte das Billett lösen komplett vergessen. Der Herr Kontrolleur war ganz freundlich, und selbst die Bezahlung ging ohne mein Zutun via sein Handy vonstatten. Ich bekam ein gültiges Ticket und er verabschiedete sich mit einem Lächeln. Hui, was für ein wunderbarer Service! Eine innerliche Ruhe umgab mich. Nun, der Blick auf das Ticket rief mich aus der Ruhe und strapazierte meine Nerven aufs Neue, denn da stand die stattliche Summe von knapp HUNDERT SCHWEIZERFRANKEN. Dann war aber fertig lustig mit gemütlich und nur innerlich Wut auslassen, und ich ‚segglete‘ dem Herren Kontrolleur, welcher schon im nächsten Wagon kontrollierte, hinterher. Sie können sich vorstellen, an dem prallten meine Gemeinheitsanschuldigungen wie Wasser auf Neopren ab. Er sei ja so nett gewesen, und hätte mir die Basel-Zürich Strecke nicht verrechnet. Ich solle mich an die SBB richten. Gesetz sei Gesetz.

Ferdammi, wäre ich doch bewusst schwarz gefahren! Dann hätte ich die NEUNZIG Stutz Busse wenigstens verdient. Aber einer ehrlich genervten, gemütlich geniessenden Zugfahrerin satte neunzig Hämmer abzukassieren und sie gemeinsam mit den Schwarzfahrerinnen in den gleichen Topf zu werfen, wäre ja wie mit allen Bösewichten zusammen in der Hölle schmoren zu müssen, weil man einmal das Vaterunser zu beten vergessen hat. (Oder ‚Ferdammi‘ geflucht.)

So ist nun „in dubio pro reo“ auch in unserer lieben Schweiz schon nur beim Zugfahren vollends abgeschafft. Es herrscht: „in dubio in culpa“. Bzw es gibt gar keine Dubio mehr. Sondern nur noch Culpa. Hesch oder hesch nid. Punkt.

Nun sitze ich im Zug zurück, mein Ticket im Kasten. Davor noch einen kurzen Sprung in den Lebensmittelladen. Die SBB und überhaupt die Herren-Damen der oberen Etagen waren schuld. Bei so einem Frusttag konnte ich natürlich nicht mit leerem Magen zurück. Nur liess ich den Mortadella, den Käse und das Brot inklusive den Schokoriegel links liegen und ging mit Salzgurken, Trockenfleisch und Hüttenkäse stolz aus dem Laden heraus. Meine Pirellis knurrten. Mein Magen bald nimmer. Aber ich muss eingestehen, es war das billigere, brasilianische Trockenfleisch, die Eu-Gurken und der Hüttenkäse, zwar aus der Schweiz, aber auch nicht Bio. Mein grünes Gewissen war gebodigt und ich der Schuld erlegen. Man kann ja nicht alles recht machen, hiess es doch einst einmal.

Jetzt kommen wir zu Recht, Unrecht und der Schuldfrage. Das ist momentan (m)ein Riesenthema. Die Menschheit brauchte für Probleme zu lösen schon immer einen Schuldigen, aber niemand möchte einen sein. Somit wird immer wieder mal von ein paar Mächtigen eine Regel aufgestellt, zu recht oder unrecht, aber rechtsgültig, welche zu befolgen ist. Wer sie nicht befolgt, aus welchem Grund auch immer, ist Schuld. Gerechtigkeit ist abgeschafft. Und anzweifeln zensuriert. So dürfen wir heutzutage weder frei atmen, noch uns frei bewegen, uns frei treffen, noch frei versammeln. Die Regeln zur Freiheit oder eben nicht werden von ein paar Herren-Damen geschaffen und laufend verändert. Wer sich nicht daran hält, ist im Unrecht und somit schuld und wird bestraft.

Noch eine Frage? Nein? Fragen sind sowieso abgeschafft. Selber schuld.

Ferdammi.