Nervendragées

So, jetzt habe ich soeben zwei Dragées tibetanische Nervenmedizin eingenommen. Die sollen scheinbar helfen. Ich freue mich ja schon auf mein gechilltes Wesen. Auf meine Nichtreaktionen. Auf meine nur positiven Vibes. (Der Spruch meines Bruders. Das war jetzt nicht sehr positiv, aber die Dragées wirken noch nicht.) Auf meinen immerwährend guten Geist und auf ein Neopren-Dasein. Auf Gelassenheit, ein dauerhaftes sanftes Lächeln, auf die nonstop rosarote Brille. Auf totale Mindfulness.

Om-Chanti-Om.

Ich hätte die Pillelis ja schon eher nehmen sollen. Denn meine Nerven hängen nur noch an einem sehr ausgeleierten Ersatz-Seidenfädelein. Mein innerer Schweinehund kann sozusagen frei bellen und Zähne fletschen. Das ist jetzt zwar nicht sehr logisch. Aber was ist schon logisch bei solch sensiblen Antennen wie meinen. Wenn sie die Logik selber nicht mehr verstehen. Dann gibt es einen Störfunk und legt jeglichen Resten an Sendungen lahm. Ausgefunkt. Absturz.

Nun, meine Nerven brauchen Stärkung. Ich sitze schon im Pischi im Bett und warte auf die Wirkung, während draussen ein paar Penner vor der Kirche ihre Bluetooth Box ,an der Wand resonnierend, aufdrehen. Mit Reggae-Musik. Meine Nerven! Doch die Musik ist gar nicht so schlecht, und es ist schon bald Sommer. Mein Hirn ist am Arbeiten. Inklusive meine Tibetanische Medizin am Wirken? Soll ich mich jetzt über die Rücksichtslosigkeit dieser Männerwelt nerven oder die Musik und die gute Stimmung, die „positiven Vibes“, auf mich wirken lassen und wippend weiterschreiben? Ich entscheide mich für Nummer zwei. Ruhe ist Downtown sowieso totally overrated. Und ich wohne schliesslich Downtown Saint-Louis. Der Banlieue von Basel.

Ein Zigarettli wäre jetzt noch fein. Aber meine Zähne sind schon geputzt. Egal. Im Bett habe ich schon lange nicht mehr geraucht. Und schon gar nicht in meinem. Irgendwo habe ich noch ein Päckchen wohl schon austrocknete Glimmstängel vom letzten Sommer, ein Feuerzeug und einen schönen Aschenbecher meines Vaters. Ich zünde mir die Ziggi an und : Herrlich! Reggaemusic, plaudernde Trunkenbolde, zwitschernde Amseln, Automotoren, eine sich verirrende Hornisse, „Bing“, die Kirchenglocke schlägt Halb, und ich bei offenem Fenster im Bett, eine Zigarette rauchend. Es fehlt nur noch das Brausen der Wellen. Oder vielleicht auch nicht.

Hoch leben die tibetanischen Nervendragées !